Hartstoffbeschichtete Bremsscheibe: Stresstest für die Schleifbearbeitung
Da Feinstaubemissionen vor allem eine Folge des Abriebs von Reifen und Bremsen sind, führt ein wirksamer Ansatz über hartstoffbeschichtete Bremsscheiben, mit der sich der Abrieb um bis zu 90 Prozent reduzieren lässt. Deren Bearbeitung stellt jedoch gerade die Schleiftechnik vor besondere Herausforderungen. Unter dem hohen zeitlichen Druck, der durch den Gesetzgeber aufgebaut wird, gewinnen Abstimmungsprozesse für effiziente Prozessauslegung und daraus entstehende Entwicklungspartnerschaften besondere Bedeutung. Der Stresstest könnte sich jedoch gerade im Hinblick auf die Verlagerung von Investitionen in Richtung Elektromobilität als Vorteil erweisen.
Welche Auswirkungen der Energie- und Mobilitätswandel für Produktion und Fertigungstechnologien und damit auch für die Schleifbearbeitung hat, unterstrich Prof. Eckart Uhlmann vom Institut für Werkzeugmaschinen und Fabrikbetrieb IWF der TU Berlin auf der jüngsten Schleiftagung in Stuttgart-Fellbach. Die Tagung ist eine renommierte Veranstaltung der WGP, der Wissenschaftlichen Gesellschaft für Produktionstechnik. Komponenten wie Elektromotoren, emissionsarme Bremssysteme oder hocheffiziente und geräuscharme Getriebe in elektrisch angetriebenen Fahrzeugen müssten zeiteffizient und qualitätssicher hergestellt werden, und dies im Einklang mit den hohen Anforderungen an die ökonomische und ökologische Nachhaltigkeit. Gelingen könne dies nur, mahnte Uhlmann, der auch Mitglied der WGP ist, wenn alle Optimierungspotenziale der Schleiftechnologie ausgenutzt würden. Die hartstoffbeschichtete Bremsscheibe könne dafür ein gutes Beispiel sein. Sie steht zugleich für eines der Trendthemen auf der kommenden GrindingHub, die der VDW (Verein Deutscher Werkzeugmaschinenfabriken) vom 14. bis 17. Mai 2024 in Stuttgart veranstaltet.
Neue Werkstoffe erhöhen Komplexität des Schleifprozesses
Worin die besondere Herausforderung bei der Bearbeitung hartstoffbeschichteter Bremsscheiben liegt, erläutert Jannik Röttger. Er ist im September dieses Jahres aus dem Wissenschaftsbetrieb der RWTH Aachen als neuer Leiter Technologie Schleifen zur Emag Maschinenfabrik ins schwäbische Salach gewechselt: „Vereinfacht gesagt: Hartstoffbeschichtete Bremsscheiben machen in der Schleifmaschine genau das, was sie im emissionsarmen Fahrzeug tun sollen - eine hohe Bremswirkung ohne Materialverlust aufbauen“, so Röttger. „Im Schleifprozess möchten wir aber genau das Gegenteil erreichen. Ziel ist es, in möglichst kurzer Zeit Material zu entfernen, um die geforderten Geometrie- und Oberflächeneigenschaften zu erzeugen.“
Wie der Schleifexperte dazu ausführt, besteht die Hartstoffbeschichtung aus einer relativ weichen Matrix mit Karbiden als Hartstoff. Beide Werkstoffe weisen ein grundlegend unterschiedliches Zerspanverhalten auf. In der Regel optimiere man Schleifwerkzeuge entweder auf das eine oder das andere Materialverhalten. Der neue Werkstoff mache die Entwicklung geeigneter Schleifscheiben dadurch zu einer großen Herausforderung. Durch die auftretenden Prozesskräfte werde die Auslegung der statischen und dynamischen Maschineneigenschaften sowie der Spindelantriebe sehr komplex.
Darüber hinaus beeinflusst nicht nur die volumetrische Zusammensetzung aus Hartstoff und Matrix die Zerspaneigenschaften der Hartstoffschicht, sondern auch das Beschichtungsverfahren. Für das Laserauftragsschweißen nannte Röttger als Beispiele etwa Prozessparameter wie Laserleistung oder Relativgeschwindigkeiten. Wärmeenergie, die durch den Laser eingebracht wird, könne zu einem Verzug der Bremsscheibe führen. Das ist im nachfolgenden Schleifprozess zu berücksichtigen. Aus diesem Grund müsse die komplette Prozesskette nach dem Gießen des Rohteils - also das Drehen, Laserbeschichten und Schleifen sowie die daraus resultierenden Funktionseigenschaften im Fahrzeug - als Gesamtsystem betrachtet und optimiert werden.
Fertigungslösungen über die gesamte Bearbeitungskette
Die Emag-Gruppe, Aussteller auf der GrindingHub, bietet eigenen Angaben zufolge für die gesamte Bearbeitungskette nach dem Gießprozess Fertigungslösungen an und könne somit an eigenen Dreh-, Laser- und Schleifmaschinen die Wechselwirkungen zwischen den Fertigungsverfahren gezielt untersuchen. Um die Zusammenhänge von Ursache und Wirkung zwischen den Einstell- und Ergebnisgrößen zu verstehen, arbeiten nach Angaben von Jannik Röttger Konstruktion, Fertigungstechnik und Materialwissenschaften in Forschung und Entwicklung interdisziplinär zusammen. Eingebunden sind dabei auch externe Experten, wie etwa Wissenschaftler der RWTH Aachen, und Schichtsystementwickler der Firma HPL Technologies, eines Start-ups der RWTH Aachen.
Von den Vorteilen einer interdisziplinären und unternehmensübergreifenden Zusammenarbeit ist auch Michael Wöhrle überzeugt, Leiter Forschung und Entwicklung bei Supfina Grieshaber, Wolfach. Das Unternehmen stieg bereits 2019 in die Prozessentwicklung zum Schleifen hartstoffbeschichteter Bremsscheiben ein. „Ein enger Schulterschluss mit den Entwicklungspartnern erschien uns von Beginn an als die einzige Chance, den Anforderungen durch Euro 7, die von der EU formuliert wurden, in dem geforderten Zeitraum zu erreichen“, sagt Wöhrle. „Wir mussten uns in den Prozess hineindenken, mussten hinterfragen, welche Ideen und Gedanken etwa ein Pulverhersteller hat, worauf man sich bei den unterschiedlichen Beschichtungsverfahren einstellen muss und letztlich: was ist realistisch, was scheidet eher aus, weil es für den Massenmarkt schlicht zu teuer ist?“
Supfina sei technologieoffen unterwegs, stelle sich aber vor allem auf das Laserauftragsschweißen und das Cold Spray (Kaltgasspritzen-)verfahren ein. Mit den Beschichtungsspezialisten habe man ich anfangs nahezu wöchentlich getroffen. „Wir erleben eine nie dagewesene Innovationsgeschwindigkeit“, sagt Wöhrle. Als Belastung werde jedoch die ständige Ungewissheit empfunden, ob und welche Änderungen der Gesetzgeber noch plane. Keinen Zweifel ließ Wöhrle indes daran, dass er die Reduzierung der Feinstaubbelastung grundsätzlich als absolut notwendig erachtet, für die menschliche Gesundheit ebenso wie für die Umwelt, und räumt dabei ein: „Ohne die Regulierungsbestrebungen wären wir noch nicht so weit.“
Doppelseitenschleifen als wirtschaftliches Maschinenkonzept
In Europa werden jährlich knapp 100 Millionen Bremsscheiben produziert, von denen etwa die Hälfte an Fahrzeughersteller geht, die andere Hälfte für den Ersatzteilmarkt bestimmt ist. Experten gehen davon aus, dass die Feinstaub reduzierende, umweltfreundliche Bremsscheibe von der Fahrzeugindustrie Milliardeninvestitionen fordert. „Bislang waren manche Bremsscheiben so günstig, dass sie in Tonnen abgerechnet wurden“, sagt Michael Wöhrle. „Jetzt kommen teure Rohstoffe und Prozesse hinzu und damit die Herausforderung, ein für den Massenmarkt taugliches Produkt zu entwickeln.“ Bei den Maschinenherstellern ist das Doppelseitenschleifen erste Wahl, weil es laut Wöhrle die zeitgleiche Bearbeitung beider Reibring-Flächen, hohen Durchsatz und kurze Taktzeiten gewährleistet. Supfina stellte jüngst mit der Planet BD eine neue Maschine vor, die bereits bei renommierten Kunden im Einsatz ist. Dabei handelt es sich um eine Schleifmaschine, wie Michael Wöhrle betont, die für ein einziges Produkt, nämlich die Bremsscheibe der Zukunft entwickelt wurde.
Auf diesem Maschinentyp werden in Zukunft auch Bremsscheiben für Elektroautos bearbeitet. Bei reinen Elektrofahrzeugen wird die Bremse zwar weitaus seltener und weniger kräftig betätigt, weil die Rekuperation des Motors oft eine ausreichende Bremswirkung entfaltet. Dafür besteht die Gefahr, dass das „gelangweilte“ Bremssystem gerade unter schlechten Witterungsbedingungen anfängt zu rosten. Beschichtete Bremsscheiben können auch dieses Problem lösen. Supfina-Entwicklungschef Michael Wöhrle geht davon aus, dass sich die Beschichtung auf die etwas geringeren Anforderungen an die Bremsleistung und die Anzahl von Bremszyklen anpassen lässt. Teure Bestandteile in den Beschichtungen werden reduziert oder ersetzt und so ein etwas kostengünstigeres, wenn auch nicht ganz so leistungsstarkes System verfolgt. Darauf dürften die Schleifexperten nach dem Euro 7-Stresstest dann auf jeden Fall bestens vorbereitet sein.
Autorin: Cornelia Gewiehs, Fachjournalistin, Rotenburg
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